Von Nicolas Wiese, Berlin

Als einer der ersten KETTENREAKTION-Gastkünstler war ich wahrscheinlich der erste, der dort, auf und mit dem Attisholz-Gelände, einen ortsbezogenen Prozess in eine ortsungebundene künstlerische Arbeit übertragen hat, welche anschließend andernorts präsentiert werden konnte und wurde.
Bei dem Stop-Motion-Video »Version2: Pseudo_Code« ist das Attisholz-Gelände Material und Thema, die Inszenierung fand jedoch zwischendurch an einem anderen Ort statt – nicht als Dokumentation, nicht als Extraktion, nicht als Sekundärprodukt oder lose Spurensammlung. Sondern als die Sache selbst.

Fr. 2.9., Attisholz
Beim ersten KETTENREAKTION-Rundgang, durchgeführt von Miryam Abebe, präsentierte ich die erste Version der Arbeit. Relativ eilig, mit der selbstgesetzten Deadline 17Uhr, arrangierte und schnitt ich Video und Tonspur, um einen einigermaßen vorzeigbaren Rohschnitt (oder Work-in-progress-Schnitt) für den Rundgang zu haben, und vorher genug Zeit zum Einrichten der Projektion im ausgewählten Raum. Einigermaßen erstaunt war ich dann allerdings doch über die Kohärenz dieses ‚Zwischenergebnisses‘, für das ich unter normalen Atelier-Alltagsbedingungen sehr wahrscheinlich deutlich länger gebraucht hätte.
So hatte »Version1: Pseudo_Failure/Pseudo_Code« in Attisholz, rechtzeitig vort meiner Abreise, Premiere vor einem kleinen Kreis Interessierter und Involvierter.

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2. Hälfte September, Berlin-Neukölln
Im Atelier arbeite ich weiter. Die Sound-Komposition, hauptsächlich gewonnen aus dem laufenden Wasserstrahl im resonierenden Metallbecken des Attisholzer Waschraums, hatte ich bereits in der ersten Version mit einem subtil eingeflochtenen, digital verfremdeten Gesangs-Fragment der italienischen Vokalistin Elisabetta Lanfredini zusätzlich bestückt. Nun arbeite ich auf eine mehrkanalige, räumlich verteibare Klanginstallation hin, bei der Elisabettas Stimme eine größere Gewichtung bekommt – dabei entsteht weiteres tonales, mit den Wasserstrahl-Resonanzen harmonierenendes Material, aber auch kontrastierendes bzw. sich textural daran reibendes Stimmen-Geräusch-Material.
In die Bildwelt möchte ich bei dieser zweiten Version gar nicht zu sehr eingreifen, und auch nicht groß expandieren. Die Animations-Sequenzen aus wieder abfotografierten Raum-Projektionen erscheinen mir nach wie vor stimmig, auch im Timing und Tempo. Die Kreide-Schrift-Zeichen, die als Wandzeichnungen in die Bildschichtungen eingeflossen sind, greife ich nun in anderer Weise wieder auf: in Form neuer Wachs- und Ölkreide-Zeichnugen auf schwarzem Tonkarton. Neue Schrift-Enstehungs-Sequenzen werden in das Video integriert, schließlich auch mit der Wendung des darauffolgenden Zerreissens.

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Mi., 5.10., Berlin-Wedding
Aufbau der Installation »Version2: Pseudo_Code« für das Internationale Klangkunstfest Berlin 2016, im wunderschönen Gebäude der Bibliothek am Luisenbad. Die Klanginstallation zum Video nun 6-kanalig, über 10 Lautsprecher. Die Installation befindet sich nicht in einem abgeschlossenen, ‚White-Cube‘-mäßigen Eigenraum, sondern im Zwischenfoyer des ersten Stockwerks, einem offen verwinkelten Durchgangsbereich zwischen Treppenaufstieg, Konzert-/Vortragssaal und weiteren Ausstellungsräumen.
Das Thema des diesjährigen Festivals: »Das handelnde Subjekt«.
Mein Entschluß: innerhalb der Installation als permanent anwesender Performer, an einer Art Vortragspult, neue Kreide-Diagramme und -Schriftbilder auf Tonkarton zu erstellen, und diese (als temporäre, nicht endgültig fixierte und von außen eher unverständliche Gedankennotizen) immer wieder zu zerreißen.  Die zerrissenen Fragmente werden über die drei Festivaltage als anwachsender Prozess-Spurenhaufen auf dem Boden verteilt. Die Kreide-Schriftspuren werden somit, als Entsprechung zu den im Video sichtbaren Attisholz-Wandbeschriftungen, im neuen räumlichen Kontext zu konkretem Material.

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28.–30.10., Attisholz
Die Arbeit kommt zurück an ihren Ursprungsort, den ArtCampusCellulose Attisholz. Zum großen Abschluss-Event der KETTENREAKTION 2016 wird Version 2 im selben Raum gezeigt, in dem auch Anfang September das erste Screening von Version 1 stattfand. Die zerrissenen Tonkarton-Fragmente von der Berliner Festival-Aktion reisen ebenfalls mit, und werden wieder in scheinbar achtloser Manier auf dem Fußboden verstreut. Die Schichtungen von Spuren, Spuren des Vorgefundenen und des subjektiv Eingreifenden, haben sich vermehrt, der Kreis schließt sich. Möglicherweise….