Wie jetzt? War’s das schon? Nach dreimonatigem Bespielen eines in die Brache gelegten Industriegeländes in Attisholz ist nun Schluss? Alles Schall und Rauch? Sämtliche Arbeiten regionaler, nationaler und internationaler Künstlerinnen und Künstler der Vergänglichkeit auf einem silbernen Tablett präsentiert, der Verwesung ins Auge blickend? Oder befindet sich gerade jetzt das Industriegelände durch das Projekt KETTENREAKTION in einer Metamorphose, welche das Potenzial beherbergt die Seele dessen in Form einer Kultur nachhaltig in die künftige Raumplanung einzubinden?
Werner Feller konzipierte, organisierte und führte das Projekt KETTENREAKTION von August bis Oktober 2016 mit Hilfe von über 120 Kunstschaffende und Mitwirkende auf dem zerfallenen Industriegelände der ehemaligen Zellulosefabrik in Attisholz bei Solothurn durch. Die brach gelegte Industrielandschaft wurde bereits zuvor unter anderem als Kulisse für Filme und Fotoshootings genutzt, jedoch in keiner Weise so intensiv und in jeglicher Hinsicht Grenzen sprengend bespielt wie in den letzten drei Monaten. Regionale, nationale und internationale Kunstschaffende verwandelten mit ihren Arbeiten das Gelände in eine Art off space mit musealem Charakter – von der Autorin als off museum[1] definiert. Weder Herkunft, Alter, Geschlecht, Bildung, Schicht, gesellschaftlicher Status oder ethnische Gruppierung spielten bei den Akteuren eine Rolle dem ad hoc zweckentfremdeten Industriegelände vorerst ein letztes Aufschnaufen durch Kunst vor dessen Tod durch künftige Raumplanung zu gewähren. Die Idee zerfallene Industrie- und Häuserlandschaften über Kunst wiederzubeleben ist nicht neu und erinnert an die Bronx in New York City der 70er Jahre. Nachdem Robert Moses als Powerbroker den damaligen bis dahin funktionierenden Stadtteil aus raumplanerischer Perspektive zu einem Getto vernichtet hatte, entstand in diesem die Hip Hop Kultur als Antwort auf eine kurssichtig geldgierige Elite mit fehlendem Fokus auf Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung. Ethisch durchmischte Jugendliche entwickelten die künstlerischen Hip Hop Disziplinen Breakdance, Graffiti, Rap und DJ’ing. Graffiti diente der Verzierung verfallener Gebäude, Breakdance galt der körperlichen Fitness, MC’s animierten Partys; der sich hieraus entwickelte Rap wurde zum Medium sozialer Dokumentationen und Botschaften. Mit Ausnahme für die Graffiti Artists, war das DJ’ing die zentrale Disziplin, die der Bewegung ende der 70er Jahre durch DJ Kool Herc Schub verleihte. Letztendlich verschmolzen die Gattungen Tanz, Malerei und bildende Kunst zu einer Kultur mit eigener Stilistik. Letztere sowie die interdisziplinäre Verschränkung genannter Disziplinen galt als die Grundlage überhaupt, um sich als Kunst- Kulturbewegung von anderen abzuheben. Mit der Ausübung und persönlicher Entwicklung dieser Disziplinen sollten Zugänge kreiert werden, die Integrationsmöglichkeiten in die Gesellschaft erlaubten. Eingepackt in eine pazifistische Philosophie, die die Akteure dazu ermunterte negative Energien in positive Konstruktive umzuwandeln, dies über genannte künstlerische Ausdrucksformen. Kunst und Kultur als konstruktives Katapult, um der Armut zu entfliehen. Eine Alternative bei Versagen des Staates. Der Initiant des Projekts ist mit dieser Philosophie als Pionier Graffiti- Künstler in Solothurn bestens vertraut. Nebst der Einladung von zwischenzeitlich renommierten autodidaktischen Künstlerkollegen der old school[2] aus der Schweiz, Berlin und Paris, die grösstenteils bis heute als eigenständige Auftragskünstler und Kunstschaffende im öffentlichen Raum in der akademischen Welt immer noch um Anerkennung kämpfen, erlaubte sich Feller auch Kunsthochschulabgänger einzuladen, die im akademischen Kreis leichter durch ihren Bildungsstatus als Künstler anerkannt werden. Der Abschluss des Projekts krönte ein Symposium mit zum Teil promovierten Rednern. Insgesamt ein gewagtes Experiment, dass nur durch die gegenseitige Offenheit der Kunstschaffenden, der Mitwirkenden, den Material- Sponsoren und dem Publikum getragen wurde. Letzteres interessierte sich ausschliesslich begeistert für die Verschränkung und Interaktion von Malerei, Tanz, Audio- und Videoinstallationen, Fotografie, Plastik, Elektrotechnikkunst, Mobiliar- und Inneneinrichtungsdesign, Literatur und vieles mehr im neu geschmückten Areal. Die Begehung wurde abwechslungsreich und spannend wahrgenommen. Der Entdeckerinstinkt mit aufwartenden Überraschungsmomente ward geweckt. So durfte denn auch das aus Industrieabfall konstruierte Katapult nicht fehlen.
Für die einheitliche visuelle Harmonie sorgte zusätzlich die „Gattung Chemie“. Ein vom Projektleiter vorgegebenes interdisziplinäres Element für die Graffiti- und Wandbildkünstler in Form einer Farbpalette, die in Abstimmung mit den farblichen Überreste der Brache kommuniziert und so das Projekt sanft in dieser einbettet.
Die Metamorphose der Brache in Attisholz basierend auf den Ursprüngen der Hip Hop Bewegung mit den hier ausprobierten Erweiterungsideen wurde als erste Forschungsetappe von unterschiedlichen Parteien begeistert aufgenommen (Staat, Kirche, Firmen, Private, …). Das Projekt sollte daher wiederholt, weitergeführt und mindestens geistig in Form eines Kataloges festgehalten werden; diesbezüglich sind Gespräche der unabdingbaren pekuniären Unterstützung im Gange. Bei perpetueller Wiederholung des Projekts in einem bestimmten Zyklus hat dieses durchaus Potential sich an Kunstschauen wie die Documenta oder Manifesta anzugliedern und sollte daher als kultureller Forschungsauftrag ernsthaft in Erwägung gezogen mit staatlichen und oder privaten Fördermittel getragen werden. Die hier erbrachten Forschungsresultate empfehlen sich bereits durch ihre Eigenleistung als mögliche Gestaltungselemente künftiger Raumplanung der brachgelegten Industrielandschaft. Idealiter würden diese aktiv in die raumplanerische Neuorientierung miteinbezogen werden.
Mit höchster Spannung wird der Lauf der Dinge beim KETTENREAKTION – Projekt als Prozessetappe in Metamorphose verfolgt, dies im Hinblick auf eine konstruktive nachhaltige Zukunft des Projekts.
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[1] off museum definiert hier das Aufzeigen einer möglichen alternativen Raumnutzung und deren Reflexion im musealen Kontext. Ein begehbares Gelände, das den Rezipienten Kunst in zweckentfremdeten öffentlichen Innen- und Aussenräumen von Gebäuden zugänglich macht. Begriffsdefinition von Caroline Montandon, Oktober 2016.
[2] old school betitelt üblicherweise die Gruppe der Pionierkünstler der Hip Hop Kultur Bewegung in der Schweiz ende 70er/ beginn 80er Jahre. Ein Pionierkünstler bedeutet nicht automatisch old school. Es gibt Städte in denen sich die Jugendlichen erst zu Beginn der 90er Jahre mit der Hip Hop Kultur beschäftigten. Sie gelten somit zwar als Pionierkünstler in ihren Städten aber nicht zur geschichtsschreibenden old school der Schweiz.
MA phil. hist. I Caroline Montandon
Kunst- und Kulturhistorikerin
Pionier Rap Artist in Bern since 1988
Founder of www.hiphopmuseumschweiz.ch
03. November 2016
4. November 2016 at 10:54
Nein, das war’s sicher noch nicht.
Auch die neuen Besitzer wissen, es wird ein langer Prozess, dieses riesige Gelände in eine neue Form zu giessen.
Das was in den letzten Monaten nur eine Randnotiz war, das Geld das dazu nötig ist, wird wieder wichtiger.
Dazu müssen Räume vermietet werden damit die Übergangslöungen und die Zinsenlast zu tragen ist.
Es werden viele Lagerräume daraus entstehen. Im vierten Stock jedoch und ohne Aufzug kann das etwas schwierig sein.
Als Atelierraum, Werkstatt, Kunsthalle, und Ähnliches jedoch ist das denkbar.
7. November 2016 at 18:18
Kettenreaktion 2016 und „off museum“
Zunächst die Frage: woher kommt der Begriff off museum?
Hängt dieser eventuell mit dem sogenannten off space zusammen?
Und was bedeutet daher off space?
Das sind einige Fragen – deshalb arbeiten wir daran, Antworten zu bekommen, die unausweichlich weitere Fragen generieren werden.
Ist ein off space jener Ort, der als nicht-etablierter Ausstellungsraum als Plattform für Künstler bezeichnet wird? Wenn das so ist, dann meint dieses off einen nicht-professionell-kommerziellen Raum im Gegensatz zur privaten oder öffentlichen Galerie, was aber den Verkauf von Artefakten dort nicht ausschließt. Daher nehmen wir an, daß es sich um eine Räumlichkeit handelt, die spontan als Präsentationsort von Künstlern und Kunstschaffenden selbst eingerichtet und betrieben wird.
Wie kann man sich nun ein off museum vorstellen?
Was wird zunächst unter einem Museum verstanden?
Aus dem Griechischen stammt das Wort und ist heute weniger mythologisch aufgeladen. Es werden Gebäude und auch Institutionen damit bezeichnet. Diese machen sich zur Aufgabe, in unserem Fall Kunst, zu sammeln, zu ordnen und auszustellen, in der Hoffnung, daß Wissen vermittelt wird und sich ein Erkenntnisgewinn beim Publikum einstellt. Kommerziell sind diese in der Regel auch, da Eintritt verlangt wird.
Wie geht das nun zusammen, das off und das museum?
Hieße das, daß ein solches Museum ein nicht-etablierter Ort der Wissensvermittlung, also der Kunstwissenschaft, ist? Zugleich sollten Artefakte gesammelt, katalogisiert und einem Publikum gezeigt und bestenfalls auch diskutiert werden. In welchem Gebäude oder Gebäudekomplex wäre ein solches off museum vorstellbar? Und was ist die Institution dahinter und das Konzept, die es dafür braucht? Und ist ein off museum auch ein Ort der Kunstproduktion, was eher nicht typisch ist für Museen, obwohl es auch nicht ausgeschlossen ist (vgl. BundeskunstHallOfFame in der Bundeskunsthalle Bonn 2015)?
Durch das Fragen nach dem off museum sind weitere Fragen entstanden. Diese werden hoffentlich kritisch beantwortet werden, um diesen Terminus im Gespräch zu halten, um festzustellen, ob der Cellulose Art Campus und die Kettenreaktion 2016 in Attisholz sich dafür eignen oder nicht. Einige Parallelen sind vorhanden, doch gibt es auch neuartige Elemente und all das, was sich 2016 auf dem Areal in Attisholz ereignet hat, unter dem Terminus off museum zu fassen, läßt unbekannte Möglichkeiten der Kunstwissenschaft zu.
Harald Hinz, Kunsthistoriker
16. November 2016 at 14:33
Kunst und Freiheit in Attisholz.
Künstlerisches Schaffen ………………
Klar, es ist nicht die erste Industriebrache, die mit künstlerischen Interventionen konfrontiert wurde.
Klar, es ist nicht neu, dass interdisziplinär gearbeitet wurde.
Das sensationell Neue aber an diesem Projekt war das Klima auf diesem Areal in seiner Ganzheit.
Das Wetter spielte sehr gut mit.
Die ganz grosse Freiheit in der Ausführung – die es so einfach nie gibt – die war hier vorhanden.
Niemand redete dem andern etwas aus. Jeder konnte sich am vorhandenen Material bedienen, Werkzeuge und Maschinen verwenden, mit hydraulischen Hebebühnen arbeiten.
Jede und jeder konnte einbringen was ihr/ihm wichtig war und die Arbeit eigenständig einrichten.
Ein derartig komplexes Projekt auf die Reihe zu bringen ohne je von Geld zu reden das habe ich so noch nie erlebt auch wenn man in Gesprächen sich austauschte und philosophierte und lachte.
Die einzige Geschichte in der Geld eine Rolle spielte ist zweien aus dem Ausland auf der Strasse nach Attisholz passiert, die mit ihrem Auto zum ersten Mal Schweizer Boden berührten und nach kurzer Fahrzeit angehalten wurden und wegen Geschwindigkeitsüberschreitung eine Busse von Fr. 400 der Polizei abzugeben hatte. Sie hatten auf einem Autobahnabschnitt signalisiert mit 100 Km/h 130 auf dem Tacho.