Solothurn Kettenreaktion

Samstag, Ankunft. Gewusel, viele Namen, Staub.
Kristallin wie eine Salpeterausblühung des Kapitals liegt das Werk still, nachdem es das gesamte Holz der Umgebung und noch einen Teil des finnischen Waldes in seinen Magensäuren aufgelöst, und die schweizer Industrie mit feinster Zellulose versorgt hat. Hundert Jahre hochskalierte Prozesse, von der Wissenschaft zur Wirtschaft, nun eine vergiftete Schale, von den Spaniern entbeint, enter: die Künstler. Sie werden hier nochmals durchgeprügelt, natürlich gerne, freiwillig und unter Zuhilfenahme sämtlicher kreativer Energie. Die Schale will wiederbelebt werden, reintegriert in den mehrwertproduzierenden Kreislauf des Geldes. Wohnen am Wasser, Kreativwirtschaft, Wellness.
Die Künstler natürlich, in utopischen Gemeinschaften bestens geschult, führen eine Alternativwährung ein, den Attis, und klinken sich vermeintlich elegant aus dem Reigen aus. Aber: Wie ist der Umrechnungskurs in Espresso? Und was, ausser dem Spritgeld und einen Mosaikstein in der Vita bleibt für sie, die sich als erste durch die verseuchte Ruine treiben lassen, übrig? Da wird im Hintergrund doch schon der eine oder andere Attis bewegt…
Abends, in Solothurn wieder, in der exclusiven Künstlerbleibe an der Aare, dem Alten Spital, fällt der Blick, aufgescheucht durch jubelnde Horden in Sportdress mit LED-Fackeln aus dem Chinacontainer, nach einem Wechsel ins Atelier auf der anderen Seite des Gebäudes, auf eine Temporäre Flash-Disko unter der Eisenbahnbrücke, an der der sportliche Lindwurm sich kreischend und zuckend im grellen Flackern der Stroboskope zu stampfendem Euro-Disko-Sound in Extase zappelt. Eine Stunde später ist alles vorbei, die Brücke liegt still im Dunkeln und nur vereinzeln ziehen noch gutgelaunte Sportler blinkend durch die Altstadt. Gude Laune, unter Eid, Genossen.

Sonntag, Leichenschau, Staub und Gong
David verabreicht uns eine Führung durch das gigantische Gerippe, erzählt, zeigt, führt uns stolpernde und beeindruckte Artisten durch die staubigen, verlassenen Hallen, Flure und Treppenhäuser. Erste Artefakte der hier bereits gewirkt Habenden zeigen sich, Schildchen, Aufkleber, Graffitti. HipHop hat sich Teile des Areals erschlossen. Dorotea, Sunita, Chris begegnen uns. Wir ziehen mit den Recordern die Bahn der Führung nochmal nach, naschen Strom an Steckdosen, werfen Metallteile durch Hallen, knirschen über Kies und durch Scherben, schlurfen durch Treppenhäuser, schaben an entweideten Schaltschränken am Rost, Plaque an den Zähnen der Zeit. Es wird schön, es entwickeln sich Vorstellungen von dem, was man mit dem im Überfluss vorhandenen Material in der Kürze der Zeit anstellen kann. Sich nur nicht verzetteln, Kürze, Würze, Sonne, Wonne.
Abends dann geniesst man den lauen Sonntagabend, irgendwoher wehen die Geräusche gutgelaunter Solothurner durch die Nacht, es könnte Livemusik im Spiel sein, die Spanier im Restaurant unten gegenüber entpuppen sich bei näherem Hinhören doch als Schweizer, die Mundart hat der Hörgewohnheit ein Schnippchen geschlagen.
Wir begutachten die Beute des ersten Tages, katalogisieren weiter das gesammelte verhallte Rauschen und Schaben, zucken unter den Kopfhörern bei jedem Gongschlag zusammen, sichten und schichten erste Lagen testweise übereinander. Wir lernen Dos und Donts, versuchen, aus Fehlern Klugheit zu destillieren. Was funktioniert, was begeistert, was verstört. Hallo Hall, hallo Halle, hallo Material. Der Gong bleibt zu Hause, und ich muss meine Powerbank, den mobilen Stromtrog für mein Recorderchen mit dem antiken Akku unbedingt aus Frankfurt holen. Und das Schuhwerk darf ein wenig fester sein. Morgen wird mal ein wenig Perkussionsarchäologie betrieben, und wir stellen uns ein kleines Drumset aus den gestohlenen Klängen und Geräuschen zusammen. Soweit der Plan, hurra, hurra Stolichnaya.

Montag, Einschnitt, Abschnitt, Ausschnitt, Reise
Zur Rehabilitierung des Völkischen, als Begriff natürlich, nicht in seiner konnotierten Bedeutung, wie sie mir heute morgen aus den Nachrichten entgegensprang, würde die Rehabilitierung des Nationalsozialismus passen, das Nationale ist ja schon länger rekonvaleszent und gegen Sozialismus wird ja wohl niemand wirklich was haben. Petry Heil! Bei der Gelegenheit darf man wohl auch noch die Fotze aus der Vergessenheit holen; der Vollschpasst, die alte Schwuchtel, ist ja nie wirklich weg gewesen. Die Bundespolizeistreife im Zug weiss auch schon ganz genau, wer mal seinen Ausweis vorzeigen muss. Völkische Fotzen FTW!
Aber bleiben wir bei der Sache, wobei heute ja ein Tag des Textes wird, da darf man dazu ganz explizit werden, Mathes widmet sich den Kartoffeln, ganz völkisch aus deutschen Landen importiert. Fest im Sattel ab Basel, wird das Netzteil eingestöpselt und ein wenig Kunstproduktion betrieben, still stehend ist mein Hirn keinen Attis wert. Und das könnte Investoren verstören, das will hier niemand riskieren.

Dienstag, Rückkehr, Rewind, Rechain
Wieder da, wieder Sonne, die Profirecorderei schleift ihren Gerätepark über die staubigen Trails aus Kabintten und Pavillons. Knistern und Grundrauschen werden kartografiert und abgelegt. Abends ein faszinierendes Stammesritual mit einem dicken Eisenstab. Groß- und Altmeister stellen sich vor, man reicht sich die Assoziationskettenreaktion rum als sei sie ein grosser, wortgewordener Eisenjoint. Da hat sich jemand was dabei gedacht, und der sympathische Wahn schimmert sanft unter der Oberfläche der Floskeln. Das Feuer knistert sich einen. Ball and chain meets Spielplatz.

Mittwoch, Bühnenbau, Nichtbaden
Verschlafen ist der Laune abträglich, aber das hält nur eine Kaffeelänge lang. Wir bauen uns eine Plattform, schön feucht und dunkel darf es sein, und sie wartet auf ihr Publikum. Abends konstruieren wir Konstrukte, um sie zu verwerfen. Eine dem Koloss unangemessene Vorgehensweise? Die alten Pläne und technischen Zeichnungen, die als Artefakte überall herumliegen, zeugen von einer Präzision, die in der Ruine nur noch so schwach zu spüren ist, wie die Geister der Lohnarbeitenden oder die Geräusche der maximal hochgefahrenen industriellen Produktion. Das Bad in der Aare musste ausfallen, der Sommer und sein Wurmfortsatz müssen ohne mich in den Herbst treiben.

Donnerstag, Glauben, Schrauben, Gottvergelts
Die Paella der Spanier verführt den Vegetarier. Gehetzt gehen die Kabinettlosen auf Selbstsuche. Ohne Sonne, kein Bad, in der Kings Hall beeindrucken sich die Generationen. Wo krieg ich einen sauberen Sinuston her in diesem Obertoninferno? Ein Bogen aus purem Attisgold überspannt die Szenerie. Da wirkt das karge Loch auch nicht so klamm. Abends beim Kartoffelstampf dann die Einsicht, die Aussicht: es wird sich fügen, mir zu genügen, euch zu betrügen. Ohne genauen Plan entsteht, im Fokus ein Detail, ein überraschendes Bild. Jahrelange Übung im Integrieren von Fehlern verscheuchen die Zweifel. Schnell noch ein Layout aus Schweigen und Abwesenheit, auf dass sie uns ein solides Fundament bilden, impress me! So ihr Lieben, nun aber hurtig ins Bett, Vorfreude auf die innere Barfussdiskothek kribbelt über die Sohlen.

Freitag, Finale furioso
Dies aus dem Rückspiegel, daher erst ein Wiewardasnochmal… Also den Vormittag ein wenig verblödelt und noch schnell was arrangiert, am Beat geschraubt. Eine letzte Mahlzeit bei den Spaniern. Am Nachmittag Aufbau, aber tausendsassamäßig noch mit den Beamerproblemen gerungen, alles mal hingestellt, verkabelt, gestöpselt. Dann kommt der Rundgang, bei dem wir in den Genuss einer Schwitzerdütschen Tonspur kommen, und als Highlight eine Performance von Zina, Oleg und Namevergessen geniessen dürfen. Das wirkt sehr intensiv, Oleg bringt es fertig, aus dem als Absurdität in der Wand daherkommenden Fenster zur Aare, in dem Raum neben der Werkstatt, aus diesem ewig treibenden Stillleben ins Bild einzusteigen, nackt in den Fluss, am anderen Ufer, und herüberzuschwimmen, wo er dann mitten im Raum aus dem Gulli steigt. Das beeindruckt, ebenso wie die Körperlichkeit, die die Protagonisten in dem staubigen Raum an den Tag legen. Danke dafür! Zurück im Café dann sind wir an der Reihe. Mathes zeigt den Film aus den Drucken, zur Projektion hat sich eine wunderschön verwinkelte Ecke des Raumes gefunden, recht dunkel, wo die Wand mehreren Ebenen die Projektion aufbricht und neue Perspektiven preisgibt. Dann mache ich eine Einführung in das Konzept der Audio-Führung, die wir quasi nachbauen wollen, fast exakt die Räume, die wir noch vor einer halben Stunde durchquerten, in ihrem eigenen Raumsound zu präsentieren. Das war ein Ergebnis der vormittäglichen Verwirrung. Es funktioniert leidlich, es kommen auch die geräuschlosen Räume dran, Menschen lauschen interessiert den Geräuschen am Rande der Hörgrenze. Zwischendurch bekomme ich Mitleid und verkünde, man könnte sich auch auf einen Drink an die Bar stellen, das zerstreut die Meute leider. Doch die wirklich Interessierten bleiben sitzen. Wow. Der nächste Part, die bearbeiteten Sounds, das musikalische Destillat, wird dann eben kaum noch wahrgenommen, allenfalls als Klangteppich eines Barabends. Immerhin. Den dritten Teil, die Session, kriegt kaum noch jemand mit. Ich toaste ein wenig vor mich hin, Werne dubbt ein paar Drum’n’Bass Platten auf halber Geschwindigkeit durch einen Filter, ich fühle mich leidlich inspiriert und reite ein paar Reime zu tode, Solothurn must burn, jaja. Set the night on fire. Alles in Allem ein würdiger Abschluss für eine intensive, interessante Woche.

Fazit.
Danke Werne, danke Thomas, danke Miryam, danke Solothurn, don’t stop to burn, danke Attisgold, danke Altes Spital. Danke Groß- und danke Altmeister, danke Redekreis. Danke Familie, für die Erlaubnis, in die Schweiz fahren zu dürfen, danke Berlingo fürs heil hin- und wieder zurückbringen. Danke nette Leute, danke Performance. Und danke Wetter für die strahlende Zeit. Schön wars, gerne wieder. Kaum zurück fällt mir dann ein, was ich nicht alles verpasst habe zu machen, Hallfahnen sammeln, Beats verhallen, mehr erforschen und entdecken. Vielleicht gibt es dazu ja noch Gelegenheit.

Frank Bossert